Geschichten der Nacht # 48
Die Architektin und Raumdesignerin Susan Wahidie besucht
das Anwesen der Gebrüder Colin und Edward Barnabas. Neben den
beiden wohnt in Barnabas-Hall noch der Gutsverwalter Oliver Nujoc. Leseprobe: 1. Kapitel Die Steinmauern warfen lange Schatten an diesem warmen Frühlingstag. Efeu rankte an den breiten massiven Mauern empor; einige Weinreben hatten es bis unter die Fenster des ersten Stocks geschafft, und ihre knorrigen verdrehten Stämme entwickelten die ersten Knospen. Das Dach war von einer seltsamen graugrünen Färbung, zahlreiche Giebel sprangen in die Leere hervor. Jeweils sechs Fenster waren im ersten und zweiten Stockwerk zu sehen, regelmäßig übereinander angeordnet. Nur im dritten hatte man diese Symmetrie durchbrochen. Dort gab es nur drei Fenster, das mittlere von ihnen groß und rund, die anderen etwas kleiner als ihre unteren Pendants. Offenbar hatte sich dort einst der Speicher befunden, der dann ausgebaut worden war. Die weißen Gardinen in den Fenstern schlugen steife Falten. Es war doch etwas anderes, dachte Susan Wahidie, wenn man einem Gebäude, noch dazu einem von diesen gigantischen Ausmaßen, persönlich gegenüberstand oder es nur von Grundrissen, Skizzen und Photographien kannte. Auf den Bildern hatte das Anwesen idyllisch gewirkt, doch als sie jetzt nähertrat überkam sie ein Frösteln. Sie blieb stehen, starrte die Fassade empor und war froh, dass sie nur wenige Stunden in diesem Gebäude verbringen würde. Sie setzte sich erneut in Bewegung; unter ihrem Arm klemmte die Aktentasche mit den notwendigen Papieren. Im Sharan, den sie auf dem Platz etwas unterhalb des Anwesens geparkt hatte – direkt neben einem Landrover und dem funkelndem schwarzem Bentley, mit dem Colin Barnabas immer vor ihrem Büro vorgefahren war. Im Gegensatz zum Sonntagsfahrten-Bentley hatte der Landrover dreckbespritzte Seiten, und die Räder sahen aus, als hätten sie sich schon etliche Male durch schlammige Landwege gewalzt. Das erinnerte sie wieder einmal an die Größe des Anwesens und die Rolle, die die Familie Barnabas in der Geschichte der Region gespielt hatte. Vor langer, langer Zeit. Die Haustür war jünger, als das Gebäude selbst; das helle Holz verriet es. Nur ein bronzener Türklopfer in Gestalt eines Löwen war wohl ein Überbleibsel aus der alten Zeit. Sie widerstand der Versuchung ihn zu benutzen und drückte stattdessen die Klingel. Die ersten Takte von „Land of Hope and Glory“ drangen gedämpft an ihr Ohr, kurz danach öffnete sich die Tür und sie stand einem älteren, gesetzt wirkendem Herrn im schwarzen Frack gegenüber. Dies musste Onslow sein, einer von zwei Butlern, die die Familie noch in ihren Diensten hatte. Colin Barnabas hatte es bei ihren Gesprächen in ihrem Büro gelegentlich erwähnt. „Sie wünschen, bitte?“ Sie schlenderte zur Sitzgruppe herüber und warf einen Blick auf die Zeitschriften und Zeitungen, die ordentlich jeweils auf einem Haufen für sich übereinanderlagen. Unter ihnen befanden sich neben dem Times-Magazin, der New-York-Times, der Vogue - die offenbar jemand ernstlich studiert hatte, da handschriftliche Vermerke an den Rand von Artikeln gekritzelt worden waren – und anderen auch zwei offenbar chinesische oder japanische Zeitungen - sie kannte sich mit den Schriftzeichen nicht so sehr aus - und etliche Computerzeitschriften. Die letzte aktuelle Ausgabe von Wired wies wieder Notizen auf; sie meinte, die Handschrift von Mr. Barnabas zu erkennen, war sich aber nicht ganz sicher. Sie blieb an einem Artikel aus der regionalen Zeitung hängen, der sich mit seltsamen Vorkommnissen in der Grafschaft beschäftigte. In den letzten Tagen waren etliche Rinder und Schafe angefallen worden; der Zoo bestritt, dass aus dem Wolfsgehege ein Tier entkommen sei, die Polizei hatte das Gelände eines Tierfreundes durchsucht. Wölfe? Susan runzelte die Stirn. „Miss Wahidie, schön, dass Sie gekommen sind.“ Die Stimme von Colin Barnabas war wie immer sonor und freundlich, als wäre sie eine Verwandte, die man gerne auf einen Sprung vorbeikommen sieht. Das war ihr schon im Büro aufgefallen. Sie legte die Zeitung auf den Tisch und wandte sich ihrem Klienten zu. Für einen Mann von etwa 30 Jahren sah Colin Barnabas älter aus, als er eigentlich war. Die schwarzen Haare zeigten hier und da einen Anflug von Grau und unterstützten die Wirkung seines prägnanten Gesichtes. Wie immer trug er einen Siegelring an der rechten Hand, und wie immer hatte er auch jetzt seinen Spazierstock mit dem versilberten Knauf in Form eines Pferdekopfes fest im Griff. Dass er diesen stets nur für kurze Zeit aus der Hand legte, wertete sie als eine Marotte, die einem wohlhabenden englischen Gentleman zustand. Sie erwiderte seinen starken Händedruck und folgte ihm, als er sie durch den Eingangsbereich in das Innere des Hauses führte. Einen Augenblick lang hatte sie den Eindruck, dass sie beobachtet wurde, aber als sie sich für einen kurzen Moment umdrehte, wirkte der Eingangsbereich immer noch verlassen und einsam.
Nachdem sie durch dunkle Gänge und
Korridore geschritten waren - ein paarmal hatte Susan das Echo ihrer
Schritte gehört und unwillkürlich lief ihr eine Gänsehaut
über den Rücken - erreichten sie das Arbeitszimmer von Mr.
Barnabas. „Bitte, legen Sie doch ab.“ Nachdem Susan das getan hatte, setzten sich beide an den breiten Mahagoni-Schreibtisch, offenbar ein Erbstück aus viktorianischen Zeiten. Wie aufs Stichwort trat Onslow in den Raum, stellte ein Tablett mit Tee und Gebäck zwischen ihnen auf und verschwand dann wieder so leise, wie er gekommen war. „Bitte, bedienen Sie sich. Nach der langen Fahrt hierher tut Ihnen der Tee sicherlich gut. Zumindest ist es bei mir stets der Fall.“ „Danke, Mr. Barnabas.“ Sie goss
sich den heißen Earl Grey in ihre Tasse und nahm ein Plätzchen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich von London bis hierher
knapp drei Stunden brauchen würde.“ „Ja, mein Entschluss hat noch Bestand.
Als ich das Erbe antrat, dachte ich noch, dass es mir vielleicht möglich
wäre, das Anwesen komplett aus eigenen Mitteln zu unterhalten.
Aber sie wissen ja, wie riesig die gesamte Anlage ist. Glauben Sie
mir, ich habe etliche schlaflose Nächte hinter mir, aber es gibt
keinen anderen Weg, den ich beschreiten könnte. Wie mein Vater
es geschafft hat, das Anwesen halbwegs auf diesem Level zu halten,
ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Nun, Sie werden die restlichen
Räume ja heute noch zu Gesicht bekommen, dann können Sie
sich selbst ein Bild davon machen.“ „Colin, ich verlange eine Erklärung
...“ Gerade als Edward die Tür hinter sich
geschlossen hatte, betrat Colin Barnabas erneut den Raum. Anderthalb Stunden später stand Susan mit schmerzenden Füßen vor der Haustür. Der Wind hatte etwas aufgefrischt und sie genoss die kühle Brise auf ihrer Haut. Nach all den Gängen, Korridoren, verwinkelten Ecken und ausladenden Räumen brauchte sie etwas frische Luft. Mr. Barnabas hatte mit seiner Behauptung nicht untertrieben: Das war kein Anwesen, das war fast schon ein kleiner Palast. Die Räume, die sie zu sehen bekommen hatte, waren glücklicherweise allesamt in einem guten Zustand; das war die gute Nachricht, die sie Mr. Barnabas auf dem Weg zum Auto erzählen konnte. Natürlich mussten sie dennoch etwas hergerichtet werden. Ddas würde länger dauern, als sie sich beide gedacht hatten – was die schlechte Nachricht war. Eine Hoteleröffnung im nächsten Jahr war eher unwahrscheinlich. Sie konnte Mr. Barnabas durch die langen Vorgespräche etwas einschätzen und wusste, dass er vermutlich die entsprechende Geduld aufbringen würde. – Die Frage war, ob die Banken das auch tun würden. „Wunderschön, finden Sie nicht?“ Mr. Barnabas war geräuschlos an ihre Seite getreten. Sein Blick schweifte über die hügelige grüne Landschaft, die ab und an durch kleine Gehölze unterbrochen wurde. Ein Schäfer trieb seine Herde über die breite Zufahrtsstraße, Hunde bellten. Die letzten Strahlen der Sonne erhellten den Himmel mit einem feinen Rotton. Über allem lag ein tiefer Frieden. „Ja,“ stimmte Susan ihm zu,
„es ist wirklich schön hier.“ Sie atmete mehrmals
tief ein und aus. „Was die Räume angeht ...“ Sie öffnete die Tür. „Allerdings,“ fuhr Mr. Barnabas
fort, „kann es eine Weile dauern. Mr. Nujoc ist wegen geschäftlicher
Angelegenheiten in der Stadt und wird erst gegen Abend zurück
sein. Sie sind natürlich bis dahin mein Gast.“ Susan schüttelte den Kopf. Sie konnte
einfach nicht glauben, dass jemand im 21. Jahrhundert wegen einigen
seltsamen Todesfällen bei Schafen und Rindern nicht durch die
Dunkelheit fahren wollte. Mr. Barnabas war so klug, sich mit einer Bemerkung darauf zurückzuhalten. Stattdessen schloss er die Tür des Sharans und ging einige Schritte voraus. Susan blieb nichts andere übrig als ihm zu folgen. Jetzt, in der anbrechenden Dämmerung, wirkte das Anwesen wie ein großes träges Raubtier, das nur darauf wartete sie zu verschlingen. Unsinn, das sind die Nerven, dachte sie und schob den Eindruck beiseite. Impressum: |
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